Die SARS-CoV-2-Pandemie machte tiefgreifende Umstrukturierungen in der gesamten medizinischen Versorgung notwendig. Auch psychiatrische Kliniken wurden verpflichtet, Kapazitäten freizuhalten und Hygienevorschriften zu befolgen bei gleichzeitigem Pflichtversorgungsauftrag. Hier besteht die Möglichkeit, über ein Kontaktformular eigene Fragen an die DGPPN-Experten zu richten.
Die Behandlung in der Psychiatrie unterscheidet sich in Dauer und der Intensität und Relevanz sozialer Interaktionen mit Therapeuten und Mitpatienten wesentlich von der somatischen Medizin und ist daher in besonderem Maße von verschärften Hygienemaßnahmen betroffen. Psychiatrische Praxen und psychiatrische Institutsambulanzen haben sich mit Digitalisierung und Flexibilisierung der Arzt-Patienten-Kommunikation rasch an die hygienischen Erfordernisse angepasst. Dies führte zu spezifischen Herausforderungen, die nach wie vor bestehen. Auch mittelfristig muss im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie zwischen der Ausweitung von Versorgungsangeboten und dem Schutz von Mitarbeitern und Patienten abgewogen werden.
Die SARS-CoV-2-Pandemie stellte Kliniken der Psychiatrie und Psychotherapie vor besondere Herausforderungen: In einzelnen Bundesländern verpflichten Allgemeinverfügungen der Regierungen explizit auch psychiatrische Kliniken dazu, Kapazitäten für die Behandlung von COVID-19-Erkrankten zu reservieren bzw. aufzubauen. Elektive Aufnahmen wurden ausgesetzt, wobei die Kliniken gleichzeitig ihrem Auftrag, die psychiatrische Behandlung der Bevölkerung sicherzustellen, gerecht werden mussten. Dabei waren psychiatrische Behandlungseinheiten in deutlich geringerem Maß als internistische Fachabteilungen auf die plötzliche Priorität des Infektionsschutzes eingestellt, weder Patienten- noch Mitarbeiterschaft war an den Gebrauch von Schutzmaterialien und an die Einhaltung von Schutzmaßnahmen auf Verhaltensebene gewöhnt.
Darüber hinaus erfordert die lege artis Behandlung psychischer Erkrankungen intensive und vielfältige soziale Interaktionen: psychisch erkrankte Personen nehmen im Normalfall während eines stationären Aufenthalts an einer Vielzahl von Therapiegruppen teil, nehmen ergotherapeutische, bewegungs- und körperorientierte, musik- und kunsttherapeutische Angebote wahr und verbringen gemeinsam Zeit in Aufenthaltsräumen und Speisesälen. Die Förderung sozialer Kontakte ist integraler Bestandteil psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Menschen mit schweren psychischen Störungen sind krankheitsbedingt stellenweise nicht in der Lage, den Sinn und die Notwendigkeit von Infektionsschutzmaßnahmen zu erfassen und ihr Verhalten entsprechend zu modifizieren. Insbesondere in Fällen akuter Selbst- oder Fremdgefährdung findet sich das medizinische Personal einer erheblichen und nicht immer verlässlich durch persönliche Infektionsschutzmaßnahmen kontrollierbaren Gefahr ausgesetzt.*
Auch im ambulanten Bereich musste der Praxisalltag schnell an die Situation angepasst werden. Als besondere Herausforderung stellte sich in den ersten Wochen der Pandemie die Beschaffung von Schutzausrüstung heraus. Seitdem konnte das Versorgungsangebot, allerdings nichts in der ganzen Breite, durch eine Abrechnungsfähigkeit von video- und telefonbasierter Interventionen aufrechterhalten werden. Behördlich angeordnete Quarantänemaßnahmen führten vielerorts zu Verdienstausfällen und erheblichen wirtschaftlichen Verlusten.
Die unternommenen Maßnahmen haben sich in ihrer Gesamtheit als hocheffektiv erwiesen, was die erfolgreiche Eindämmung der Infektionszahlen insbesondere im direkten Vergleich mit den derzeitigen Hotspots der Pandemie in den USA und Lateinamerika verdeutlicht.
In der gegenwärtigen „Postakutphase“ sind medizinische Leistungserbringer seit Mai 2020 damit befasst, die im Zuge der Pandemie als Reserve-Kapazität vorgehaltene Ressourcen wieder vermehrt für Patienten, die dringend medizinischer Behandlung bedürfen zur Verfügung zu stellen. Dabei entsteht ein inhärentes Spannungsfeld zwischen der Erfüllung des medizinischen Versorgungsauftrags für die Bevölkerung (und zwar für alle behandlungsbedürftigen Erkrankungen, nicht nur COVID-19) und der Beachtung des Infektionsschutzes bzw. der Vermeidung eines Wiederaufflammens der SARS-CoV-2-Pandemie im Sinne von lokalen Hotspots oder gar im Sinne einer „Zweiten Welle“.
Das grundsätzliche Dilemma einer Güterabwägung zwischen der Ausweitung von benötigten medizinischen Versorgungsangeboten und den Restriktionserfordernissen im Zuge des Infektionsschutzes besteht nicht nur im Bereich der somatischen Medizin, sondern auch und gerade bei der Versorgung psychisch erkrankter Menschen. Aufgrund einiger Besonderheiten der psychiatrischen Behandlung ergeben sich gerade in diesem Bereich der medizinischen Versorgung spezifische und komplexe Herausforderungen (multiprofessionelle und multimodale Programme mit Gruppensettings und stationsübergreifenden Therapieangeboten, Bedeutung der Sozialraumorientierung in der Behandlung (Ausgänge, Besuche, Belastungserprobungen), teils nicht kompliante Patienten bzgl. Hygienevorschriften).
Die erforderlichen Prozessanpassungen können im Detail nur vor Ort durch die jeweils Verantwortlichen erfolgen, weil wichtige Voraussetzungen (z. B. therapeutische Konzepte, baulichräumliche Aspekte, personelle Gegebenheiten, regionale Versorgungsverpflichtung, lokales Infektionsgeschehen) von Einrichtung zu Einrichtung deutlich variieren und sich die infektionshygienische Lage und auch die regulatorischen Vorgaben von Ort zu Ort unterscheiden.
*Quellen
Miller D. Coronavirus on the Inpatient Unit: A New Challenge for Psychiatry - Medscape - Mar 16, 2020.
*Quellen
OLG Zweibrücken, Beschluss vom 18.06.1990 - 1 Ss 238/89
Psychiatrische Institutsambulanzen und Vertragsarztpraxen
Sehr viele Prozesse müssen in allen Behandlungssektoren voraussichtlich über eine längere Zeit von mindestens mehreren Monaten so organisiert werden, dass erforderliche Behandlungen für alle psychische Erkrankungen State-of-the-Art durchgeführt werden und dabei Infektions- und Infektionskettenrisiken so weit wie möglich minimiert werden. Die betroffenen Bereiche umfassen mitnichten nur die direkte Patientenversorgung, sondern erstrecken sich auch auf praktisch sämtliche assoziierten Bereiche wie Infrastruktur, Beschaffung, Lagerhaltung, Aufnahmemanagement, Laborleistungen und Personalallokation. Diese tiefgreifenden Prozessmodifikationen sind voraussichtlich mindestens (!) für einen Zeitraum von 6-12 Monaten zu erwarten, da selbst bei einer sehr raschen Verfügbarkeit eines SARS-CoV-2-Impfstoffes erst bei einer ausreichenden Impfquote von einem entsprechenden Schutz der Bevölkerung und des medizinischen Personals auszugehen wäre.
Bei der Kollision von infektionsschutzbezogenen Prioritäten und dem Bemühen um eine optimale psychiatrische Versorgung der Bevölkerung sind regelhaft Abwägungen zwischen hochrangigen Rechtsgütern (Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person) zu treffen, welche nur im eng abgestimmten Dialog mit den Behörden vor Ort sowie sämtlichen Entscheidungsträgern der jeweiligen Klinik unter Einbezug entsprechender Expertengruppen (Hygiene, Arbeitsschutz, Betriebsmedizinischer Dienst, Rechtsabteilung, etc.) realisierbar erscheinen.